Gestern fahre ich nachmittags auf einer Landstraße durch Ostwestfalen-Lippe. An der Einmündung eines Wirtschaftswegs hält mit aktivierter Warnblinkanlage ein betagter Kombi der Marke Ford, zugelassen für den Straßenverkehr mit einem Überführungskennzeichen, Landkreis Meißen. Davor steht ein gut gekleideter Mann, der heftig mit den Armen rudert, was wohl bedeuten soll, dass er Hilfe benötigt.
Ich halte also an, mal hören, worum es geht. Vielleicht genügt es schon, mein Handy für ein Telefongespräch zur Verfügung zu stellen oder den Automobilclub anzurufen. Ich würde ihn auch ein paar Kilometer an den Haken nehmen und in den nächsten Ort schleppen, ein stabiles Seil habe ich schließlich dabei.
Der Mann kommt sofort an mein Auto, ich lasse die Scheibe runter und er erzählt mir die Geschichte von seiner funktionsuntüchtigen Kreditkarte, dem fehlenden Bargeld und dem leeren Tank. Deutsch ist nicht seine Muttersprache, ich tippe auf den Balkan als Heimat. Die ganze Zeit über hält er mir zwei Goldringe durchs offene Fenster entgegen.
Inzwischen ist noch ein zweiter Mann aus dem Mondeo gestiegen und ebenfalls an mein Fenster gekommen. Die beiden ähneln sich wie Brüder. Bruder Zwei gibt exakt die gleiche Geschichte zum Besten, hat ebenfalls zwei Ringe in der Hand und legt noch seine schwere Halskette oben drauf. Ich bin noch gar nicht zu Wort gekommen, überlege, was ich für die Leute tun kann und lasse ihn reden.
Verzweifelt weist er darauf hin, dass auch noch seine Frau und seine Tochter im Auto sitzen und nicht wissen, wie es weitergehen soll. Als er mir nun noch mit dem Zeigefinger ein €-Zeichen auf meinen Außenspiegel schmiert, unterbreche ich seinen Redeschwall:
„STOPP! Hey, ich habe verstanden, worum es geht. Sie geben mir Ihren Schmuck und ich gebe Ihnen Bargeld zum Tanken. Zeigen Sie mal her.“
„Ja, Gold, 18 Karat, sehen Sie Stempel.“
Während ich mir einen Ring genauer anschaue, geht der Mann doch tatsächlich auf die Knie und streckt mir seine betenden bittenden Hände entgegen. Auf seine gute Anzughose nimmt er dabei keinerlei Rücksicht.
„Zwanzig Liter, was kosten zwanzig Liter Benzin?“
Mann, lass mich doch mal einen Augenblick in Ruhe, einen hilfreichen Gedanken fassen, den Ring genauer ansehen. Ich kann außer einem fetten „18k“ in der Mitte des Rings nichts erkennen. Muss da nicht irgendwo noch der Feingehalt angegeben werden? 585 oder 333 oder sowas? Ich könnte meinen Ring abnehmen und gucken, was da eingeprägt ist, vergleichen. Ich sollte meine Brille aufsetzen, aber du kommst ja hier zu nichts.
„25, 30 Euro ungefähr“
„Ja, 25 Euro, genug, kriegst du morgen wieder“
„Wie denn?“
„Gold, 18 Karat, nimmst du mit, morgen Geld zurück.“
Okay, versuche ich mal was anderes: „Ich habe noch Benzin im Reservekanister, das kann ich Ihnen geben, dann können Sie zur nächsten Tankstelle fahren und Ihr Gold da gegen Sprit eintauschen.“
„Sprit? Nein, Kreditkarte kaputt, geht nicht. Hier, zwei Ringe, Kette, kannst du mitnehmen, 20 Euro, morgen zurück. Bi-hit-te!“
Nochmaliger Kniefall.
„Hören Sie, es tut mir leid, ich glaube nicht, dass ihr Schmuck echt ist, jedenfalls kann ich es nicht beurteilen. Ich kann Ihnen etwas Benzin geben, dann können Sie zur nächsten Tankstelle fahren und dort …“
„Ist echt, Stempel, siehst du!“
„Tut mir leid. NEIN!“
Mann, hatte ich jetzt, nach dem Weiterfahren, viel zu denken!
Jetzt standen die da, fern der Heimat, ohne Bargeld, Kreditkarte aus irgendwelchen Gründen nicht benutzbar. Ich hätte mit 20 Euro ein gutes Werk tun können, die hätten mir sogar ihren Schmuck mitgegeben.
Aber wer gibt dir schon zwei echte Goldringe und eine Kette als Sicherheit für 20 Euro Bares? Wenn ich es mir recht überlege, war gar keine konstruktive Problemlösung erwünscht. Mein Geld hätte ich wahrscheinlich nie wieder gesehen und der Kaugummiautomatenschmuck hätte mir wohl auch keine dauernde Freude bereitet.
Ich werde doch wohl keine Vorurteile gegen Ausländer haben?! Nein, als solche habe ich sie schon erkannt, bevor ich angehalten habe, bin nur zu dem Ergebnis gekommen, dass an der ganzen Sache etwas faul ist, zu dick aufgetragen, letztendlich zu unglaubwürdig für mich.
Trotzdem, ich war nah dran, die Familie – gestrandet in der Fremde, fern der Heimat – mit dem Bargeld zu unterstützen. Schließlich habe auch ich im Ausland oft genug Hilfe von mir völlig fremden Personen erhalten.
Später, auf dem Weg nach Hause, wusste ich endlich, was ich hätte tun sollen: Unsere Freunde und Helfer über „110“ anrufen, kurz schildern, dass eine ausländische Familie in Schwierigkeiten steckt und ich mich nicht in der Lage fühle, ihr die passende Unterstützung zu geben.
Die Uniformierten hätten im Notfall sicherlich eine hilfreiche Lösung gefunden. Falls es sich allerdings um Betrüger handelte, wäre die Polizei an Ort und Stelle in der Lage gewesen, ihr Treiben zu stoppen. Noch wahrscheinlicher erscheint es mir aber, dass die Mondeo-Familie bereits während meines Telefongesprächs Fersengeld gegeben hätte.
Hätte, könnte, wäre, wenn … Alles müßig, weil nicht getan!
Eines aber habe ich getan: Gestern Abend noch habe ich 30 Euro für die Flutopfer in Pakistan gespendet.
Meine Bedenken, dass das Geld in irgendwelchen Kanälen verschwindet und nicht bei den Opfern der Flutkatastrophe ankommt, habe ich beiseite geschoben, als Ausrede, die man immer benutzen kann, wenn es um Spenden geht. Gestern aber habe ich bemerkt, dass ich beinahe 30 Euro für Tand ausgegeben hätte, dann doch lieber für die Flutopfer.
Nach dem Kommentar von Skugga habe ich oben noch „Autobahngold“ als Tag hinzu gefügt.
Frische Anmerkungen